wob ist kürzlich 50 Jahre alt geworden. Zeit, das Glas zu heben und ein paar Worte über eine Agentur zu verlieren, die einfach gut gealtert ist. Der Versuch einer ganz persönlichen Laudatio vom Hamburger Strategieberater Gerald Hensel, dessen Ausbildung zum Werbekaufmann in Viernheim vor 27 Jahren ihn bis heute prägt.
Mit Weichen im Leben ist das so eine Sache. Man weiß meistens nicht, dass man vor einer steht. Und selbst wenn man es weiß, ist es immer noch schwierig, die Tragweite bestimmter Entscheidungen einzuschätzen. Im Frühjahr 1996 war das bei mir anders. Ich leistete nach dem Abi gerade meinen Wehrdienst ab und wollte danach in die Werbung, idealerweise erst mal im Rahmen einer Ausbildung. Als ich bei wob im mir völlig unbekannten Viernheim zu einem Assessment-Center eingeladen wurde, ahnte ich schon, dass das interessant werden könnte. Und das wurde es auch.
Meine Ausbildung, die vor mittlerweile 27 Jahren begann, gehört bis heute zu den prägendsten Dingen meines Lebens. Sie öffnete mir die Tür zu einer spannenden, bunten Karriere, vielen langjährigen Freundschaften (darunter sehr viel später auch meine Frau, die ich natürlich auch in einer Agentur kennenlernte) und einem ganz besonderen Blick auf die Welt. Und der hat nicht zuletzt auch etwas mit diesem mystischen Ort namens Viernheim zu tun.
In weiter Verne so nah.
Eine meiner Lieblingsheadlines meiner späteren wob-Textchefin Ira Strübel lautet bis heute „In weiter Verne so nah“. Die Headline wurde für eine Employer-Branding-Kampagne der wob getextet, obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass es das Wort Employer Branding damals schon gab. „Verne“ ist südhessische Mundart und bedeutet verkürzt Viernheim. Und tatsächlich war es dieser Ort, der, neben einigen anderen Dingen, eine Ausbildung bei wob schon vom ersten Moment an irgendwie anders machte.
Viernheim hat 34.000 Einwohner und ist die südlichste Stadt Hessens. Eine typische Kleinstadt mit Eisdiele, Pizzeria, Bäcker und einer der erfolgreichsten inhabergeführten Agenturen Deutschlands. Viernheim ist zugleich Heimat der wob wie auch Spannungsbogen und Recruiting-Herausforderung. Man kann wob nicht ganz verstehen, wenn man Viernheim nicht kennt.
Eine typische Kleinstadt mit Eisdiele, Pizzeria, Bäcker und einer der erfolgreichsten inhabergeführten Agenturen Deutschlands.
Aber alles nacheinander: Ja, es gab mal eine Zeit, als man zur Auswahl Auszubildender Assessment-Center veranstaltete, weil es so viele Azubis gab, dass man sie sich aussuchen konnte. wob veranstaltete tatsächlich ein derartiges zweitägiges Event, aus dem ich mit drei weiteren Casting-Sieger:innen – stolz wie Bolle – als frisch gebackener Azubi hervorging. Mein erster Kontakt mit wob war eher von Überraschung geprägt. Denn am Rande Viernheims hätte ich kein Unternehmen wie wob damals erwartet.
Und überhaupt gab es in dieser südhessischen Kleinstadt Dinge, die ich woanders auch Jahre später in dieser Form nicht finden konnte: Mein erstes Büro lag neben einer Planning-Abteilung. Das war in deutschen Agenturen damals eine echte Seltenheit. Media, Event und PR waren integriert.
Auch meine erste Begegnung mit dem Internet hatte ich bei wob. Mit quäkenden 56-k-Modems in der wob-Bibliothek und einem jungen Absolventen namens Matthias Specht, der behauptete, dass dieses Internet auch in Sachen Business interessant sein könnte. Matthias ist heute CEO und er sollte recht behalten.
Kaum etwas von diesen Dingen hätte ich damals in dieser Form und Integriertheit als junger Mitarbeiter in Wettbewerber-Agenturen in Frankfurt, Hamburg oder – Gott bewahre – Berlin (gab es Berlin damals eigentlich schon?) erlebt. Viernheim war dabei nicht nur der zufällige Ort einer Unternehmung. Viernheim bot für wob, die Gründer und Mitarbeitenden immer einen liebevollen Kontrast. Irgendwo zwischen Landleben und Full-Service-Agentur bot dieser Ort in Südhessen genug Platz für eigene Kultur und eigene Ideen und ermöglichte dennoch Anschluss zu den Zentren für Kommunikation.
Praktische Folgen hatte das auch für uns als Azubis. Die Berufsschule fand eine gute Autostunde weiter nördlich in Frankfurt statt. Zwischen Frankfurter Kolleg:innen fühlte man sich damals – aus Viernheim kommend – etwas kleinstädtisch. Das legte sich schnell, als wir herausfanden, wie viele Teams mehr unser Agenturrundlauf damals gegenüber anderen, typischen Frankfurter Agenturen umfasste. Strategie? Media? PR? Event? Digital? „In Viernheim haben wir das.“ Und auch ansonsten hatte man recht viel Platz für das, was man machen wollte.
Strategie? Media? PR? Event? Digital? In Viernheim haben wir das.
Die kleinen Dinge.
Und dann gab es auch diese Momente, die eher weniger von Freiheit, sondern vielmehr vom Gegenteil geprägt waren. Als „old white man“ in spe darf ich solche Momente, in denen einem Richtung gegeben wird, heute auch würdigen.
Eine Anekdote bleibt mir gerne in Erinnerung: Bei wob gab es mehrere Meetingräume mit sogenannten Metaplan-Koffern. Man kennt diese Dinger: voll mit kleinen und großen Karten, Nadeln und Stiften. Nun ist der Gründer und damalige CEO, Frank Merkel, immer jemand gewesen, der einen gewissen Perfektionismus mochte – gerade in Kundenworkshops. Und so war es unser Job als frische Azubis, dass diese Koffer jederzeit aufgefüllt waren und die Eddings nie versiegten. Niemand von uns mochte diesen Job aus offensichtlichen Gründen. Aber er war nötig und er gab einem einen Blick auf die kleinen Dinge als Teil eines großen Qualitätsversprechens mit.
Tatsächlich gab es bei wob durchaus einige solcher Situationen, die mich damals nervten und für die ich heute sehr dankbar bin. Der Blick auf die Kleinigkeiten ermöglichte Rückschlüsse aufs große Ganze. Man konnte nicht über Markenführung reden, während Eddings beim Workshop versagten oder Spinnweben von der Decke hingen. Dieses Credo und dieser Qualitätsanspruch schwangen immer mit – wahrscheinlich die wichtigste Lehrstunde für mich persönlich. Denn was Marke in Anwendung bedeutet, habe ich damals erlebt.
Zugegeben: Metaphysisch waren die 1990er für die meisten Agenturen die gute alte Zeit. Das Geschäftsmodell war generell einfacher zu gestalten, die Innovations-Taktzahl war niedriger und auch kulturell wurden sich viele Fragen (leider) noch nicht so gestellt, wie das heute der Fall ist. Aber trotzdem gab es bei wob auch immer all diese kleinen kulturellen Indikatoren, die einem sagten, dass es hier irgendwie anders ist.
Ein Beispiel, das Außenstehende kaum kennen: das Captain’s Dinner. Einmal im Jahr bekocht die Führung des Unternehmens die Mitarbeitenden, um den Unternehmensgeburtstag zu feiern und Dank zu zeigen. Meist gekleidet wie die Traumschiff-Crew steht dann die Unternehmensleitung an Pfannen, Töpfen, Spülmaschinen, räumt Wein weg, schenkt Bier ein und wendet Steaks. Ein jährliches Event, das damals Spaß machte und heute, 27 Jahre später, immer noch. Denn auch als Ex wird man immer noch eingeladen. Ich schaffe es viel zu selten, aber ich freue mich sehr, dass diese Tradition erhalten bleibt – auch wenn (oder gerade weil?) sich das Personal hinter den Töpfen über die Jahre verändert hat. Kulturellen Wandel und Generationswechsel muss man so gesund und positiv erst mal hinbekommen. Chapeau dafür.
Darf man doch mal sagen.
Seit Ende meiner Ausbildung ist nun mehr als eine Generation Zeit vergangen. Über wob organisierte ich mir ein Praktikum in Atlanta. Danach studierte ich und blieb noch eine Weile, als mich die wob-Texter:innen unter ihre Fittiche nahmen. Sie und ich fanden, dass ich Talent fürs Schreiben hätte und dann brachten sie es mir bei. Meine quasi zweite Ausbildung bei wob, die mir wieder neue Türen öffnete.
Jahre später habe ich meinen persönlichen Weg gemacht. Ich habe für viele tolle Unternehmen im In- und Ausland arbeiten dürfen und war in verschiedenen Rollen für eine Menge toller großer und kleiner Marken tätig. An mehreren Start-ups war ich als Co-Gründer beteiligt und seit einem Jahr habe ich mit zwei Partnern meine eigene Marketingberatung. Aber bis heute ziehe ich sehr viel aus diesen ersten prägenden Jahren.
Meine Ausbildung hat mir eine Art Blick mitgegeben, wie die Dinge in einer Agentur sein müssten. Nirgendwo ist alles perfekt, auch bei wob ist es das nicht. Aber die Vision von einem Agentur-Idealzustand wurde für mich persönlich in der Werner-Heisenberg-Straße erstmals greifbar und hat mich immer begleitet. Ich glaube heute auch, dass es diese Idee von Miteinander ist, die mich eben nicht zu einem Agentur-Zyniker gemacht hat. Von den vielen Dingen, die ich damals lernen durfte, über die jährliche Captain’s-Dinner-Einladung bis hin zu den vielen Freunden und professionellen Bekannten, die mir über die Jahre erhalten geblieben sind, bin ich heute immer noch sehr dankbar für diesen Start ins Berufsleben.
Ich glaube heute auch, dass es diese Idee von Miteinander ist, die mich eben nicht zu einem Agentur-Zyniker gemacht hat.
Manche beruflichen Settings nimmt man im Leben einfach so mit, hakt sie ab und schwebt dann zur nächsten beruflichen Rolle. Bei mir und wob war das anders. Egal, ob ich in Frankfurt, Amsterdam oder Berlin lebte: Viernheim war immer in weiter Verne ein bisschen nah. Und dafür lohnt es sich, auch nach langer Zeit mal Danke zu sagen.
Gerald Hensel ist Managing Partner und Co-Gründer der Strategieberatung superspring in Hamburg und Berlin. Zudem ist er Co-Gründer von HateAid, Deutschlands führender Nichtregierungsorganisation im Kampf gegen Gewalt im Netz. Geralds Arbeit dreht sich vornehmlich um vernetzte Marken-, Content- und Kommunikationsstrategien für Organisationen im digitalen Wandel.